Am Freitag, den 12.12.2014 ab 19.00 Uhr wird in der Kulturhalle Tübingen und in der Galerie des Künstlerbundes die Mitgliederausstellung „Kunst und Literatur“ eröffnet.

Dabei bin ich mit der Arbeit „deckgewebe wird nachts gewebt“ vertreten.

Übermalte Lehrtafel

(„ Zelle – Gewebe – Organ“ Tafel 2030 Deutsches Hygienemuseum Dresden )

Lehrtafeln haben in der Regel die Funktion, einen Sachverhalt knapp, klar und modellhaft zu veranschaulichen. Vereinfachte Formen mit klaren Konturen, eine illustrierende
Farbgebung und eine klare Gliederung der Bildelemente erzeugen eine sachliche und
emotionsarme Ausstrahlung, die Vermittlung eines Inhalts steht im Vordergrund des
didaktischen Zeige- und Erklärungsinteresses.

Aber Lehrtafeln sind auch ästhetisches Objekte, die über das Funktionale hinaus graphisch so anspruchsvoll gestaltet sein können, dass sie einen eigenen – gelegentlich auch nostalgischen – Charme entwickeln.

Die Karte 2030 des Dresdner Hygienemuseums von 1962 hat ein solches ästhetisches Surplus.
Die sensiblen Zeichnungen, die feine, tonige Farbigkeit und die Anordnung der Strukturfelder zeugen von hohem graphischen Niveau. Dafür war die Dresdener Schule in den 60er Jahren nicht nur in der Gebrauchsgraphik bekannt.

Um nun die Sachlichkeit der Tafel mit subjektiven Assoziationen zu kontrastieren, habe ich
poetische Sprachbilder der Tübinger Lyrikerin Eva Christina Zeller hinzugefügt, die diese Texte eigens zu dieser Lehrtafel geschrieben hat. Sie entstammen ihren Gedanken und Assoziationen, die mitunter auch auf einen kulturgeschichtlichen Kontext verweisen. So nimmt zum Beispiel „deckgewebe wird nachts gewebt“ Bezug auf die Odyssee Homers. Dort wird erzählt wie sich Penelope, die auf ihren Mann wartete, der Werbung der Freier entzog, indem sie vorgab, erst das Totentuch für ihren Schwiegervater fertig weben zu müssen. (Was sie tags webte, trennte sie dann, um Zeit zu gewinnen, nachts wieder auf. )

Ich habe wiederum auf die Texte malerisch reagiert, indem ich Farbfelder hinzugefügt habe. So ist ein Gewebe aus wissenschaftlicher Darstellung, literarischen Einfällen und malerischen Strukturen und Flächen entstanden, das an die Messgewänder katholischer Geistlicher erinnert, deren Rückenansicht ich als Ministrant oft stundenlang vor mir sah.

1 (Deckgewebe) deckgewebe wird nachts gewebt
2 (Knochengewebe) tochterzellen keine söhne
3 (Knorpelgewebe) augenscooter in knorpelhöhlen
4 (Bindegebe) tote sterne leben in uns
5 (Fettgewebe) die zelle ist eine träne des meeres
6 (Blut) blutzellen wandern in kreisen
7 (Muskelgewebe) feste stränge und seile das herz
8 (Nervengewebe) aufgedeckt die nerven gespinste
Technik: Mischtechnik auf anatomischer Lehrkarte von 1962
Maße: 83 x 115
2014

unter Mitwirkung von Eva Christina Zeller (Texte), Tübingen
Winfried Baier (Typographie), Reutlingen
Graffti-Siebdruck, Reutlingen